Ich erinnere mich noch an den Zahnwechsel als Kind. Meine Schneidezähne kamen ziemlich gerade heraus und wuchsen einigermaßen in Reihe. Doch schon die Eckzähne erblickten an der falschen Stelle das Tageslicht. Sie wuchsen weiter oben in zweiter Reihe durch das Zahnfleisch. So kam es, dass ich als Grundschulkind meine erste Zahnspange bekam. Der Kieferorthopäde stellte außerdem einen Überbiss fest. So ersetzte er die erste Zahnklammer bald durch ein herausnehmbares Doppeldecker-Zahnspangenungetüm, welches beim Tragen meinen Unterkiefer am Oberkiefer fixierte. Diese Spange trug ich einige Jahre. Irgendwann waren die Eckzähne dann in Reihe und der Fehlbiss korrigert. Problem gelöst – scheinbar.

Als junge Erwachsene mit anfang 20 hatten sich meine ehemals geraden Zähne wieder verschoben. Diesmal stand ein unterer Schneidezahn in der zweiten Reihe. Weil mich die Optik so störte, leistete ich mir mit meinem angesparten Geld nochmal eine feste Zahnspange, um die aus der Reihe getanzten Schneidezähne wieder auf eine Linie zu bekommen. Zum Glück mit bleibendem Erfolg, 15 Jahre später sind die Zähne immer noch da, wo sie sein sollen.

Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden mit dem Ergebnis der Zahnkorrektur, ein fader Beigeschmack bleibt dennoch. In habe mich in den letzten Wochen intensiv mit dem Thema Zahnfehlstellungen beschäftigt und unter anderem das Buch Jaws* von Sandra Kahn und Paul Ehrlich gelesen. Es bescherte mir einige Aha-Effekte und die Erkenntnis, dass in der konventionellen Behandlung von Zahnfehlstellungen einiges gewaltig schief läuft.

Schiefe Zähne als gesellschaftliche Normalität

Zahn- und Kieferfehlstellungen betreffen so viele Menschen in unserer Gesellschaft, dass sie mittlerweile als normal angesehen werden. Laut einer Studie aus dem Jahr 1998 leidet die Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung unter Fehlstellungen der Frontzähne, nur 35 % der Erwachsenen hatten keine schiefen Frontzähne im Unterkiefer. In 15 % der Fälle waren die Fehlstellungen so gravierend, dass die betroffenen Gebisse sogar dysfunktional und entstellend sein können (im Original: "...both social acceptability and function could be affected …”) [1]. In Deutschland tragen 70 % aller Kinder und Jugendlichen eine Zahnspange [2]. Die Zahl der kieferorthopädischen Behandlungen dürfte in Zukunft weiter ansteigen, da viele Betroffene ihr schiefes Gebiss alleine aus ästhetischen Gründen korrigieren lassen.

Zahnbögen früher und heute

Krumme Gebisse waren in den Zeiten vor der Industrialisierung weitgehend unbekannt. Der in der unteren Abbildung links gezeigte Schädel aus einer Kirche im 14. Jahrhundert in Norwegen weist einen perfekt geformten Ober- und Unterkiefer mit abgenutzten, aber geraden Zähnen auf [3*]. Er steht examplarisch für Schädelfunde von Menschen aus vorindustriellen Jäger- und Sammlerkulturen weltweit.

Zahnbogen eines Menschen aus der vorindustriellen Zeit Schmaler Zahnbogen wie er heute häufig vorkommt
Links: Zahnbogen eines Menschen aus der vorindustriellen Zeit Quelle: [3*] Rechts: Schmaler Zahnbogen wie er heute häufig vorkommt Quelle: [4]

Rechts daneben ist ein Foto von einem Oberkiefer, wie er typisch für die heutige Zeit ist [4]. Der Zahnbogen ist deutlich schmaler als der des Schädels auf der linken Seite. Da die Zähne nicht genügend Platz haben, wachsen sie teilweise nebeneinander, teilweise verdreht aus dem Kiefer.

Für die Veränderungen der Gebisse werden häufig genetische Gründe genannt. Eine populäre These lautet, dass sich Menschen mit großen Zähnen Partner mit kleinem Kiefer gesucht haben und mit diesen Nachkommen gezeugt haben. Bei diesen passen Zähne und Kiefer dann nicht zusammen. Diese Theorie ist Unsinn, denn dann müssten bei den Nachkommen von Eltern unterschiedlicher Größe noch ganz andere Dinge schiefgehen. Tatsächlich haben Zahn- und Kieferfehlstellungen nur selten genetische Ursachen.

Umweltfaktoren und Verhalten als Ursache

Der wahre Grund für die grassierende Epidemie an Kiefer- und Zahnfehlstellungen liegt nicht in unseren Genen, sondern in unserer Lebensweise. Damit der Kiefer ausreichend wachsen kann, benötigt er entsprechende Stimulanzien:

Stillen

Der erste Impuls für das Kieferwachstum im Leben eines Menschen entsteht kurz nach der Geburt an der Brust seiner Mutter. Die Muskelarbeit, die das Baby beim Saugen leistet, regt die Gesichts- und Kieferknochen zum Wachsen an. Teilweise ist das Saugen für das Baby so anstrengend, dass es während des Stillens aus Erschöpfung einschläft. Mehrere Studien haben gezeigt, dass Stillen das Risiko einer späteren Zahnfehlstellung reduziert [5].

Wird das Kind stattdessen mit dem Fläschchen gefüttert, muss es kaum etwas tun. Dass das Trinken aus der Flasche eine passive Angelegenheit ist, erkennt man auch daran, dass Flaschenkinder im Durchschnitt schneller an Gewicht zulegen als gestillte Kinder. Ohne die Muskelarbeit fehlt dem Kiefer jedoch der Wachstumsreiz.

Während Kinder in traditionell lebenden Gesellschaften wie beispielsweise den Naturvölkern ausschließlich und in der Regel länger als ein Jahr gestillt werden, wurde die Flaschenfütterung mit Muttermilchersatz ab Mitte des 20 Jahrhunderts in den Industrienationen immer populärer. Anfang der 70er Jahre wurden in den USA sogar über 75 % der Säuglinge mit Flaschennahrung aufgezogen [6]. Aktuelle Zahlen aus 2018 belegen, dass heute bereits weniger als die Hälfte aller Kinder weltweit auschließlich gestillt werden [7].

Kauen

Mit der fortschreitenden Industrialisierung der Gesellschaft hat sich auch unsere Ernährung gewandelt. Die Zeiten, in denen man festes Fleisch oder harte Wurzeln kauen musste, um satt zu werden, sind dank der Erfindung von Fertiggerichten, Milchbrötchen, Hackfleisch oder Joghurt lange vorbei. Ein Großteil unserer modernen Lebensmittel beansprucht die Kiefermuskeln nicht mehr oder nur noch rudimentär.

Fertiggerichte für Kinder
Fertiggerichte für Kinder – Brei aus der Tüte

Besonders ausgeprägt ist die Tendenz zu weichem Essen bei Kindern. Bei diesen stehen häufig Dinge wie klein geschnittenes Obst, zerdrücktes Gemüse, weiches Brot oder Chicken Nuggets auf dem Speiseplan. Die Eltern machen sich Sorgen, das Kind könnte sich an hartem Essen verschlucken und ersticken. Oder das Kind isst in ihren Augen zu wenig, weshalb sie ihm die Nahrungsaufnahme so leicht wie möglich machen wollen.

Gerade für Kinder ist das Kauen jedoch besonders wichtig, da Ober- und Unterkiefer noch im Wachstum sind. Das regelmäßige Training der Kiefer- und Gesichtsmuskeln liefert einen wichtigen Wachstumsreiz für die knöchernen Strukturen des Schädels. Denn wie für alle Muskeln im Körper gilt auch hier: Use it or lose it. Wird die Kaumuskulatur nicht ausreichend trainiert, dann verkümmert sie. In der Folge ist oft nicht nur der Kiefer zu klein. Die Entwicklung des gesamten Gesichts ist beeinträchtigt.

Atmung und Haltung

Bei der physiologischen Nasenatmung ist der Mund geschlossen. Ober- und Unterkiefer berühren sich leicht und die Zunge liegt oben am Gaumen. In dieser Normalhaltung gleich der Unterkiefer die auf den Oberkiefer wirkende Schwerkraft aus. Die Zunge bildet das Gegengewicht zum inwärts gerichteten Zug der Wangenmuskeln und wirkt stabilisierend auf die Zähne.

Zahnfleischlaecheln
„Zahnfleisch-Lächeln” wegen unphysiologischen Kieferwachstums

Mundschluss und korrekte Zungenruhelage sind entscheidende Faktoren für die Gebissentwicklung und Gesichtsanatomie. Steht der Mund permant offen – wie es bei der Mundatmung der Fall ist – so kann dies die Form eines Kindergesichts ändern und das Aussehen über die Jahre stark beeinflussen. Ohne den Gegendruck des Unterkiefers kippt der Oberkiefer aufgrund der Schwerkraft mit der Zeit nach unten. Liegt die Zunge nicht am Gaumen an, kann der Oberkiefer unter dem Druck der Wangenmuskeln nicht mehr ausreichend in die Breite wachsen. Das Ergebnis kann ein langes, schmales Gesicht sein mit wenig ausgeprägten Wangenknochen, einer dünnen Oberlippe und einem schmalen Kiefer. Hat sich der Oberkiefer nach unten geneigt, ist beim Lächeln typischerweise viel Zahnfleisch sichtbar (siehe Bild).

Beim offenen Mund befindet sich die Zunge in einer unphysiologischen Ruhelage. Sie liegt nämlich auf den unteren Zähnen oder vollständig im Unterkiefer. Unter dem Gewicht der Zunge können die Zähne im Unterkiefer nicht ausreichend wachsen oder nach innen kippen. Es entsteht ein fliehendes Kinn. Liegt die Zunge dagegen zwischen den Zähnen, kann sich durch den permanenten Druck auf den Zahnbogen ein Unterbiss entwickeln. Die typische Morphologie eines Mundatmers wird in der medizinischen Literatur auch als „Long Face Syndrome” bezeichnet. Das ganze ist nicht nur ein ästhetisches Problem, die unterentwickelte Gesichtsstruktur verengt die Atemwege und ist ein Risikofaktor für Schlafapnoe [8].

Gut entwickelte Gesichtsstruktur versus Long-Face-Syndrom
Gut entwickelte Gesichtsstruktur versus „Long Face”-Syndrom Quelle: [3*]

Die Mundatmung scheint in unserer modernen Welt weit verbreitet zu sein. Eine brasilianische Studie aus dem Jahr 2010 kam zu dem Ergebnis, dass 56,8 % der Schüler einer Grundschule durch den Mund atmeten [9]. Zur Häufigkeit der Mundatmung bei Erwachsenen habe ich keine Statistik gefunden, aber wenn ich mich im Alltag umschaue, dann fallen mir immer wieder Menschen auf, deren Münder – obwohl sie weder sprechen noch essen – permanent offen stehen.

Wie kann ich vorbeugen?

Eltern können viel dafür tun, um Ihren Kindern den Weg zu einer gesunden Entwicklung zu ebnen. Idealerweise sollte eine Mutter ihr Baby sechs Monate oder länger stillen. Eltern sollten zudem darauf achten, dass das Baby in Ruhephasen den Mund geschlossen hält und durch die Nase atmet. Beim Übergang von der (Mutter-)Milch zur Beikost sollte von Anfang an das Kauen trainiert werden. Eine Empfehlung lautet, dem Kind Nahrungsmittel anzubieten, die es selbst in die Hand nehmen und in den Mund stecken kann, um darauf zu kauen ("Baby-led weaning"). Schnuller und Daumenlutschen fördern ebenfalls eine schlechte Entwicklung des Gebisses und sollten dem Kind frühzeitig abgewöhnt werden.

Älteren Kindern sollte man das richtige Kauen erklären und beibringen. Da Kinder am besten von Vorbildern lernen, sollten Eltern und Bezugspersonen auch auf Ihr eigenes Kauverhalten achten. Wenn man es Ihnen kindgerecht erklärt, verstehen bereits kleine Kinder den Zusammenhang zwischen der richtigen Mundhaltung und einer gesunden Kieferentwicklung und sie sind motiviert, selbst darauf zu achten.

Besondere Vorsicht ist bei Allergien geboten. Ist die Nase wegen einer Allergie dauerhaft verstopft, wird das Kind zur Mundatmung gezwungen, mit allen pathologischen Folgen für seine weitere Entwicklung. Sollte die allergieauslösende Substanz nicht vermeidbar sein (Hausstaub, Pollenallergie), sollte die freie Atmung durch die Nase mit für Kinder geeigneten Nasensprays oder Medikamenten wiederhergestellt werden.

Auch bei Erwachsenen ist der Kiefer kein statisches Gebilde, sondern reagiert auf eine veränderte Kieferhaltung und Zungenlage mit subtilen Anpassungen. Es ist deshalb nie zu spät, sich die korrekte Mund- und Zungenhaltung anzutrainieren.

Ganzheitliche Kieferorthopädie

Die klassische Kieferorthopädie ist oftmals eine reine Symptombehandlung mit dem Fokus auf kosmetischen und mechanischen Standards. Das zugrunde liegende muskuläre Ungleichgewicht und die unphysiologische Zungenruhelage bleiben meist unbehandelt. Weil nur die Symptome und nicht die Ursachen therapiert werden, verschieben sich die im Kindesalter korrigierten Zähne mit den Jahren häufig wieder. Nicht selten sind später weitere Behandlungen erforderlich. So war es auch bei mir.

Richtig drastisch wird es, wenn zur Einpassung der Zähne in einen zu schmalen Kiefer gesunde Zähne gezogen werden, anstatt auf die Verbreiterung des Zahnbogens hinzuwirken. Bei Kindern im Grundschulalter ist durch Verhaltensschulung und gezieltes Training eine Erweiterung des Kiefers noch möglich. Welche Erfolge dabei erzielt werden können, zeigt die Vorher-Nachher-Gallerie auf der Seite von "Forwardontics". Es handelt sich um eine Webseite von Ärzten, die mit einem ganzheitlichen Ansatz die gesunde Entwicklung des Gesichts fördern und Zahnfehlstellungen von der Ursache her beseitigen.

Zwillinge
Zwillinge mit identischer Ausgangslage nach kieferorthopädischer Behandlung. links: Zahnextraktion, rechts: Gaumennahterweiterung Quelle: [10,11]

Das Beispiel der Zwillinge im Bild oben macht deutlich, wie sehr eine kieferorthopädische Behandlung die Gesichtstrukturen beeinflussen kann. Beide Mädchen hatten im Alter von zwölf Jahren einen Engstand der Schneidezähne. Dem Zwilling auf der linken Seite wurden gesunde Zähne gezogen, um Platz im Kiefer zu schaffen. Der Zwilling auf der rechten Seite bekam eine Gaumennahterweiterung, bei der alle Zähne erhalten wurden. Jahre später zeigen die Mädchen deutliche Unterschiede in der Gesichtsanatomie [10,11].

Obwohl ich mit meinem Aussehen gut leben kann, frage ich mich manchmal, wie ich wohl aussehen würde, wäre ich seinerzeit mit Forwardontics behandelt worden. Vermutlich wären mir die Kosten für die Zahnspange als Erwachsene erspart geblieben. Leider scheint die ganzheitliche Kieferorthopädie bis heute ein Nischendasein zu fristen. Wer sich oder seine Kinder in Deutschland mit dieser Methode behandeln lassen möchte, der muss lange nach einem Therapeuten suchen. Ich hoffe vor allem für die Kinder von heute, dass Forwardontics bekannter wird und Brachialmethoden wie das Ziehen gesunder Zähne irgendwann der Vergangenheit angehören.

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Quellen

  1. Proffit WR, Fields HW Jr, Moray LJ. Prevalence of malocclusion and orthodontic treatment need in the United States: estimates from the NHANES III survey. Int J Adult Orthodon Orthognath Surg. 1998;13(2):97-106
  2. Dr. med. Nina Buschek. Schiefe Zähne: Problemzonen im Kiefer. stern
  3. Jaws: The Story of a Hidden Epidemic, Sandra Kahn and Paul R. Ehrlich, Standford University Press (Foto: American Journal of Orthodontics and Dento-facial Orthopedics) Buch*
  4. https://www.buteykobreathing.nz/Dental-Disorders.html
  5. Peres KG, Cascaes AM, Nascimento GG, Victora CG. Effect of breastfeeding on malocclusion: a systematic review and meta-analysis. Acta Paediatr. 2015;104:54–61
  6. https://en.wikipedia.org/wiki/Infant_formula
  7. https://data.unicef.org/topic/nutrition/infant-and-young-child-feeding/
  8. Katz ES, D’Ambrosio CM. Pathophysiology of pediatric obstructive sleep apnea. Proc Am Thorac Soc. 2008 Feb 15;5(2):253-62
  9. Prevalence of mouth breathing in children from an elementary school, Ciênc. saúde coletiva vol.15 no.2 Rio de Janeiro Mar. 2010
  10. Eirew HL. An orthodontic challenge. Br Dent J. 1976 Feb 3;140(3):96-9. doi: 10.1038/sj.bdj.4803712. PMID: 1061607
  11. https://www.westonaprice.org/health-topics/dentistry/from-attention-deficit-to-sleep-apnea/

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