Im Oktober 2019 habe ich den Artikel „Es ist bestimmt die Psyche.” Nein, es ist Histaminintoleranz! veröffentlicht. Seitdem erreichen mich immer wieder Anfragen, wie es mir heute geht. Nachdem sich seit meinem letzten Update vom Januar 2021 lange Zeit nichts getan hatte, haben sich in diesem Jahr die Ereignisse überschlagen und mit ihnen mein Erkenntnisgewinn.

Was ist Histamin?

Histamin ist ein Botenstoff mit lebenswichtigen Funktionen:

Im Gehirn reguliert Histamin zusammen mit seinem Gegenspieler Gamma-Aminobuttersäure (GABA) den Tag-Nacht-Rhythmus. Histamin wirkt dabei als erregender Neurotransmitter. Gebildet wird es von den histaminergen Neuronen im Hypothalamus.

Die ECL-Zellen der Magenschleimhaut produzieren ebenfalls Histamin. Das freigesetzte Histamin regt die Produktion von Magensäure in den Parietalzellen an. Aus diesem Grund werden bei Reflux manchmal Histamin-Rezeptorblocker (Antihistaminika) verschrieben.

Histamin wird als Entzündungsbotenstoff in den Mastzellen gebildet und gespeichert. Als Wächter des Immunsystems sitzen Mastzellen vor allem an Kontaktflächen wie der Haut, der Darmschleimhaut, den Atemwegen und den Membranen der Hirnhaut. Bei Bedrohung schütten sie das Histamin zusammen mit über 100 anderen Entzündungsmediatoren in das umliegende Gewebe aus. Von dort kann es sich über das Nachbargewebe weiter ausbreiten (Gewebshormon).

Histamin kommt auch in in eiweißreichen Lebensmitteln wie Fisch, Fleisch und Käse vor. Diese enthalten die Aminosäure L-Histidin, die zu Histamin abgebaut wird. Der Histamingehalt steigt, je länger ein Lebensmittel gelagert wird. Durch Einfrieren lässt sich die Histaminbildung verhindern.

Auch Darmbakterien erzeugen Histamin. Zu den physiologischen Histaminbildnern gehören Laktobazillen und Enterokokken [1]. Abnorm große Mengen an Histamin bilden Fäulniskeime wie Clostridien, Klebsiellen und Proteus species. Sie wuchern bei einer unvollständigen Eiweißverdauung und lassen das Dickdarmmileu in den basischen Bereich (pH-Wert > 7) kippen [2*].

Histaminquellen

Abgebaut wird Histamin über die Enzyme Histamin-N-Methyltransferase (HNMT) und Diaminoxidase (DAO). Die HNMT baut Histamin in den Zellen ab. Die DAO ist ein extrazelluläres Enzym. Sie wird von Schleimhautzellen des Dünndarms in das Darmlumen ausgeschüttet, um das Histamin in der Nahrung abzubauen. Bei Darmerkrankungen und Leaky Gut kann es zu einem DAO-Mangel kommen.

Meine Histaminintoleranz

Die Histaminintoleranz basiert auf einem Histaminüberschuss, der durch eine zu hohe Histaminzufuhr oder/und einen zu langsamen Histaminabbau bedingt ist. Es kommt zu den Symptomen der Histaminintoleranz (chronische Histaminose). In meinem Fall waren das Juckreiz, (Kopfhaut-)Ekzeme, Übelkeit bis zum Erbrechen, Gelenkschmerzen, Brain Fog, Schlafstörungen und Depressionen.

Hauptgrund für meine Histaminose war eine ausgeprägte Fäulnisflora im Darm, ausgelöst durch Magensäuremangel, gegen den ich seither Kapseln mit Betain-HCl einnehme. Mehr Informationen dazu findest Du in meinem Artikel über Blähungen. Außerdem sprach ich gut auf Vitamin B6 und Zink an, nachdem ich bei mir die Stoffwechselstörung Pyrrolurie vermutet hatte.

Mein Darm erholte sich, aber meine Histaminsymptome flammten auf, sobald ich Tomaten, Ananas, Kakao oder Nüsse aß. Offensichtlich litt ich am Mastzellaktivierungssyndrom. Also verzichtete ich fortan auf alle Histaminliberatoren.

Nach einer monatelangen Phase der Besserung schlichen sich die ursprünglichen Probleme wieder ein. Sogar bei früher verträglichen Lebensmitteln wie selbst gekochter Hühnersuppe schütteten meine Mastzellen jetzt Histamin aus. Meine Kopfhaut wurde immer schuppiger und ohne mein allabendliches Antihistaminikum bekam ich gar keinen Schlaf mehr. Allmählich verlor ich die Hoffnung.

Stress und das Nervensystem

2021 beschäftigte ich mich intensiv mit dem Thema Stress und seinen Auswirkungen. Mir wurde klar, dass ich selbst massiv unter Stress stand. Mein Beruf machte mir schon lange keine Freude mehr. Nach 15 Jahren schwerem Kraftsport und vier Jahren Kampfsporttraining fiel ich verletzungsbedingt lange aus. Als ich endlich wieder in meinen geliebten Sport einsteigen wollte, durfte ich das Studio wegen der Corona-Beschränkungen nicht mehr betreten. Die Einschränkungen beim Essen und die Histaminintoleranz gaben mir den Rest.

Mein Nervensystem war übererregt und mein Körper zeigte alle Warnsignale der stressbedingten Erschöpfung. Denn Stress triggert die Ausschüttung des Hormons CRH im Hypothalamus. CRH aktiviert das sympathische Nervensystem und stimuliert die Freisetzung des Hypophysen-Hormons ACTH, welches die endokrine Stressachse aktiviert. Der Körper schüttet eine Kaskade an Botenstoffen und Stresshormonen aus, die den Stoffwechsel auf Kampf oder Flucht vorbereiten. Das Nervensystem ist in Aufruhr und das Blut voller Adrenalin.

Die Stressreaktion verläuft in drei Stadien: Alarm, Widerstand und Erschöpfung. Ich befand mich im letzten Stadium (siehe Wie uns Stress krank macht).

Nervensystem und Mastzellen

Als vorderste Front der Immunabwehr sind Mastzellen anatomisch eng mit dem Nervensystem verknüpft. Nervenzellen setzen Botenstoffe frei, die an Rezeptoren auf der Mastzelloberfläche andocken und diese entweder stabilisieren oder die Ausschüttung der gespeicherten Stoffe (Degranulation) stimulieren. Umgekehrt kommunizieren Mastzellen mit den Neuronen, indem sie Histamin und andere Mediatoren absondern (Bild unten).

Wechselwirkung NS-Mastzellen
Mastzellen exprimieren Rezeptoren für neuronale Botenstoffe und werden von diesen moduliert, was eine neuronale Kontrolle der Mastzellenfunktion ermöglicht. Zu den mastzellmodulierenden Botenstoffen zählen zum Beispiel Acetylcholin, das Stickstoffradikal NO, GABA, Dopamin, Glutamat, CRH, Substanz P oder ATP. Umgekehrt kommunizieren Mastzellen auch mit Nerven, indem sie Mediatoren absondern. Quelle: [3]

Stabilisierend auf Mastzellen wirkt beispielsweise der Neurotransmitter GABA. Stress dagegen stimuliert die Degranulation. Über die Kommunikation zwischen Mastzellen und Neuronen entsteht eine pro-entzündliche Feedback-Schleife. Die an der Stressreaktion beteiligten Botenstoffe sind:

Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH)

CRH destabilisiert die Mastzellen und erhöht die Durchlässigkeit der Blutgefäße. Hierdurch verschlimmern sich entzündungsbedingte Krankheiten wie Alzheimer und Autismus-Spektrum-Störungen. Es gibt Hinweise, dass CRH über die Aktivierung von Mastzellen die Darmbarriere schwächt und auf diese Weise Dyspepsien und Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen befeuert. Zusätzlich stimuliert CRH die Rezeptor-Expression des Entzündungsbotenstoffs Neurotensin auf der Mastzelloberfläche und verstärkt so dessen Wirkung [3].

Neurotensin

Neurotensin wird bei Stress von Neuronen in einem lokal begrenzten Bereich ausgeschüttet und lässt die angrenzenden Mastzellen über Kopplung an den Neurotensin-Rezeptor degranulieren. Die Wechselwirkung zwischen Neurotensin und CRH bewirkt, dass sich Allergiesymptome bei Stress verschlimmern [3].

Substanz P

Substanz P wird bei Entzündungen an den peripheren Enden von Sinnesnerven freigesetzt. Sie kurbelt die Produktion von Chemokinen in Mastzellen an und stimuliert ihre Degranulation. Substanz P steht in Verdacht, an der Pathogenese neuroinflammatorischer Erkrankungen wie Psoriasis, Multiple Sklerose, Alzheimer, Asthma und rheumatoider Arthritis beteiligt zu sein [3].

Übererregung und Mastzellaktivierung

Nach akuten Stressreaktionen beruhigt sich das System und Entzündungen klingen ab. Chronischer Stress dagegen steigert die Erregbarkeit des Nervensystems schleichend und auf lange Sicht. Im späten Stadium degranulieren Mastzellen scheinbar ohne Grund. Ein entsteht Teufelskreis aus nervlicher Übererregung und Mastzelldegranulation.

Entzündungsreaktionen variieren abhängig von der Zahl der beteiligten Mastzellen und den Rezeptoren auf ihrer Oberfläche. Auch die genetische Disposition spielt eine Rolle. Betroffen sein können das Gehirn, die Lunge, der Verdauungstrakt, Herz und Blutgefäße, die Haut, aber auch jedes andere Organ (Bild unten).

NS-Regulation von Mastzellen
Neurotransmitter und Neuropeptide modulieren die Funktion von Mastzellen in den Membranen der Hirnhaut, in der Haut, in den Atemwegen der Lunge, in den Schleimhäuten des Magen-Darm-Trakts usw. und verursachen so das Symptombild des Mastzellaktivierungssyndroms und der Histaminintoleranz. Quelle: [3]

Meine Haut reagiert mit Juckreiz und die Kopfhaut mit Psoriasis-Schüben (Bilder findest Du hier). Der Darm wird durchlässig und meine Verdauung funktioniert nicht mehr. Das Histamin im Gehirn verursacht Übelkeit und macht mich ruhelos.

Jede Nacht, wenn ich im Bett lag, ging das Gedankenkarrussel los – eine Spirale aus Sorgen und Traurigkeit, gegen die ich Antihistaminika und Schlaftabletten nahm. Zuletzt litt ich unter starken Rückenschmerzen und offenen Wunden am Fuß. An diesem Punkt verstand ich, dass ich mein Leben ändern musste.

Mein Ausstieg aus dem Teufelskreis

Ich überlegte mir einen tragfähigen finanziellen Plan, kündigte meine Stelle und schied drei Monate später aus. Eine gewaltige Last fiel von mir ab. Ich verzichtete auf den selbst gemachten Leistungsdruck beim Sport und ging viel in der Natur spazieren. Beim Essen erlaubte ich mir alles, worauf ich im Rahmen meiner Einschränkungen Lust hatte. Ich schlief endlich wieder besser und körperlich ging es bergauf. Aber das Glück war nicht von Dauer.

Ab Anfang 2022 bekam ich täglich Schweißausbrüche. Abends schmerzten meine Muskeln, als hätte ich mich körperlich verausgabt. Trotz Erschöpfung schlief ich nicht ein. Meine hochdosierten Vitamine und Mineralstoffe halfen nicht mehr. Immer häufiger litt ich unter Ängsten. Unerwartete Geräusche wie die Türklingel erschreckten mich fast zu Tode. Ich bekam Angst vor Unfällen und Einbrüchen und steigerte mich in die Angst hinein. Wenn ich schlief, hatte ich oft Albträume.

Mich beschlich das Gefühl, mit all meinem biochemischen Wissen an mir selbst gescheitert zu sein. Würden mir am Ende nur noch Psychopharmaka helfen? “Es ist bestimmt die Psyche.” Ironischerweise hat mich dieser Spruch, der mich seit Jahrzehnten auf die Palme bringt, am Ende auf die richtige Spur gebracht.

Unverarbeite Traumata

In meinen Albträumen wiederholte sich die immer gleiche Szene: Ich war ein Kind, hilflos, ängstlich und auf mich alleine gestellt.

Ich verstand meine Träume, als ich über Hypervigilanz las. Hypervigilanz bedeutet, dass Stress und Angst an eigentlich harmlose Situationen (Trigger) geknüpft sind. Schaltzentrale dieser Emotionen ist die Amygdala im limbischen System [4]. „Falsche” Trigger finden sich bei Überlebenden von Krieg und Terroranschlägen. Ein platzender Luftballon oder Feuerwerksgeräusche können Betroffene in Angst und Panik versetzen (Posttraumatische Belastungsstörung).

Zu einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (K-PTBS) kommt es bei vernachlässigten und missbrauchten Kindern. Die Trigger der K-PTBS können Geräusche, körperliche Merkmale, bestimmte Sätze oder harmlose Alltagssituationen sein. Viele Betroffene wissen nichts von ihrer Traumatisierung und leiden ein Leben lang unter Stress, Depressionen und Angststörungen [5].

Chronischer Stress führt früher oder später zur Dekompensation („Exhaustion”). Schweißausbrüche, Entzündungen (u. a. durch Mastzellaktiverung), chronische Erschöpfung und Autoimmunkrankheiten können auftreten.

Hilfe bei K-PTBS

Unter einer K-PTBS zu leiden, ist eine sehr schmerzhafte Erkenntnis. Ich wusste, dass meine Kindheit problematisch war, das Ausmaß wurde mir jedoch erst vor ein paar Wochen bewusst. Was mir in dieser schweren Zeit sehr geholfen hat, sind das Buch „Posttraumatische Belastungsstörung – Vom Überleben zu neuem Leben”* von Pete Walker und das Coaching von Mutterwunde.

Selbstverständlich hat nicht jeder Mensch mit Histaminintoleranz oder Mastzellaktivierung ein Trauma! Aber wenn Verzicht und Nahrungsergänzungsmittel nicht mehr helfen, kann sich der Blick in die Vergangenheit lohnen.

Mit viel psychologischer Arbeit konnte ich aus den immer gleichen Mustern ausbrechen und mein Nervensystem beruhigen. Meine Mastzellen haben sich spürbar stabilisiert. Der Weg ist noch weit, aber ich sehe Licht am Ende des Tunnels.

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Quellen

  1. https://histaminikus.de/blogs/blog/darmbakterien-und-histaminintoleranz
  2. Kristin Deppe. Neue Wege aus dem Histamin-Dilemma. Herausgeber: tredition GmbH, Hamburg Buch*
  3. Xu, H., Shi, X., Li, X. et al. Neurotransmitter and neuropeptide regulation of mast cell function: a systematic review. J Neuroinflammation 17, 356 (2020)
  4. Wikipedia – Amygdala
  5. Wikipedia – Komplexe posttraumatische Belastungsstörung

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